Am Punkt der größten Ausdehnung beginnt der Rückzug; am Punkt des größten Rückzugs beginnt die Ausdehnung – das Prinzip von Yin und Yang, männlich und weiblich, innen und außen. Die beiden ursprünglichen großen Kräfte, die aus dem T’ai Chi entstanden sind, der Einheit.
Am 21. Juni ist Sommersonnenwende – der längste Tag und die kürzeste Nacht. Im Ruhrgebiet, wo ich zurzeit lebe, ist die Sonne an diesem 21. Juni von 5.15 Uhr bis 21.53 Uhr sichtbar – 16 Stunden und 37 Minuten.
Und zu Beginn des Sommers, der Wärme, dem Wachstum, der bevorstehenden Ernte und Fülle, fängt das Licht an, sich wieder zurückzuziehen, ein Gefühl von Wehmut ist dabei, zumindest geht es mir so, – bis sich der Herbst ankündigt, ein kühles Lüftchen, die Blätter fallen und der Winter steht vor der Tür. Dann, in der tiefsten Dunkelheit, am 21. Dezember, dem kürzesten Tag und der längsten Nacht, beginnt sich mitten im Rückzug und Innehalten das Licht wieder auszudehnen.
Alles verändert sich permanent
Es ist wie das Ein- und Ausatmen, Tag und Nacht, die Phasen des Mondes, der Körper, auch ein Gedanke, ein Gefühl oder Dinge wie ein neuer Tisch, ein Pullover, die Lieblingsschokolade, bekommen einen Kratzer, eine Laufmasche, ist unauffindbar. Alles ist permanent im Wandel, mal direkt fühl- und sichtbar, mal braucht es einen Tag, ein Jahr, 20 oder tausende von Jahren. Alles ist in Bewegung, alles kehrt zum Ursprung zurück. Wollen wir es Festhalten, ist es bereits dabei zu gehen.
Das Festhalten an etwas, was unbeständig ist, verursacht Leid, der Weg raus aus dem Leiden ist das Akzeptieren dessen und Loslassen.
Wir mögen dieses „nicht festhalten können“ jedoch nicht besonders, und tun viel dafür, diese Tatsache zu verdrängen. So machen wir zum Beispiel Unmengen an Fotos, um den Moment „festzuhalten, zu dokumentieren“. Zugleich verwehren wir uns mit genau diesem Festhalten-wollen, den Moment wirklich im Jetzt zu erleben und ihn als gelebte Erfahrung in uns zu tragen, wo er zu einem Teil von uns wird und uns Kraft gibt und lebendig bleibt.
Also erinnern wir uns über das Foto daran, fahren an denselben Ort in den Urlaub, essen dasselbe und klagen, wenn es heute nicht „wie sonst“ war. Der eine scheinbar besondere Moment wird dann zum Bezugspunkt für Vergleiche und bestimmt darüber, wie ich mich jetzt fühle und wie es wieder werden soll. Keine Chance, dass der aktuelle Moment sich auf seine andere, ebenfalls einzigartige Weise zeigen kann und wir das Leben in ihm wahrnehmen und würdigen.
Wollen wir raus aus diesem Dilemma der mentalen Konstruktionen, der Bewertung der Vergangenheit und den Erwartungen an die Zukunft, durch die wir immer am jetzigen Moment, dem Leben, vorbeischlittern, können wir nur anerkennen, dass wir nichts kontrollieren können, nichts Festhalten. Nur üben, das Kommen und Gehen unserer Gedanken und die daraus entstehenden Emotionen wahrzunehmen, die Empfindungen unseres Körpers kennenzulernen, statt uns in daraus entstehenden Geschichten zu verrennen. Es geht darum, uns mutig ins Leben hineinzubegeben und den jetzigen Moment bewusst zu leben, mit aller Hingabe, Freude, auch Demut in Anbetracht dieses riesigen kosmischen Zusammenspiels, von dem wir nur ein wirklich kleiner Teil sind.