Das als ambitionierten Naturschutz propagierte UN-Projekt droht in sein Gegenteil umzuschlagen, wenn indigene Landrechte unberücksichtigt bleiben
Bis 2030 sollen 30 Prozent der Erde unter Naturschutz gestellt werden. Darüber beraten zurzeit die Vereinten Nationen auf den Umweltkonferenzen zu Biodiversität und Klima.(1) Im Frühjahr 2022 soll es in Kunming/ China verabschiedet werden. 30×30 – das hört sich nach einem guten Plan an in Zeiten, in denen händeringend nach Lösungen für die sich beständig verschärfende Klimakrise und den Verlust der natürlichen Artenvielfalt gesucht wird. Doch hinter dem griffigen wie irreführenden Titel, der zielgerichtetes Handeln signalisiert, verbergen sich in der jetzigen Fassung massive Menschenrechtsverletzungen, eine Gefährdung der Biodiversität und das irreführende Signal eines „weiter-so“.
„Wir waren schon immer hier!“ (2)
Denn in 95 Prozent der Gebiete, die davon betroffen wären, leben fast alle der weltweit insgesamt 6.000 indigenen Völker mit etwa 370 Millionen Menschen. Ihre Gebietsrechte sind nur selten gesichert und die Auffassung von Naturschutz als menschenleerer Wildnis, entstanden in der Kolonialzeit Ende des 19. Jahrhunderts, ist – obwohl mittlerweile wissenschaftlich widerlegt (3) – immer noch verbreitet, sei es aus einer postkolonialen Denke heraus oder schlicht aus wirtschaftlichen Interessen wie Tourismus, monokultureller Nutzung oder Abbau und Förderung begehrter Bodenschätze, die vielfach in traditionell indigenen Gebieten liegen.
Diese Auffassungen spiegeln sich in dem augenblicklichen Rahmenentwurf der Konvention wider, in dem weder die Einhaltung der Menschenrechte noch Schutz und Sicherung der territorialen Rechte indigener Völker und lokaler Gemeinschaften gewährleistet sind. Sie werden lediglich mit dem juristisch unverbindlichen Begriff der „Partizipation“ (4) erwähnt.
„Wir kennen unser Land und schützen es. Wir müssen involviert werden.“ (5)
Auch ein ordentliches Teilnahme- und Mitbestimmungsrecht indigener Völker auf der klimapolitischen Ebene fehlt bisher, wie jetzt für die COP 15 und 26. Dadurch können auf Themenwahlen, konkrete die indigenen Völker betreffende Entscheidungen oder eine grundsätzliche Planung des Klimaschutzes nicht eingewirkt werden. Das steht im deutlichen Widerspruch zu deren zentraler Bedeutung im Biodiversitäts- und Klimaschutz: Indigene Völker und lokale Gemeinschaften erwirken und hüten 80 Prozent der globalen Artenvielfalt, – der Grund, weshalb deren Gebiete zu den für den globalen Umweltschutz kritischen 238 terrestrischen Ökozonen zählen. (6) Zahlreiche Studien belegen den kausalen Zusammenhang zwischen der Fülle dieses Artenreichtums und der gezielten und kenntnisreichen Pflege und nachhaltigen Bewirtschaftung von Wäldern und Natur. (7) Gezielte und bewusste Brandrodung des Unterholzes sorgt beispielsweise dafür, dass natürliche Brände sich nicht zu extrem zerstörerischen ausweiten und ermöglichen größere Wassereinlagerungen im Boden, die einen gesunden Lebensraum für eine solche Diversität bereiten.
„Es ist eine Krise des Lebens, nicht nur des Klimas.“ (8)
So droht das Projekt 30×30, wie der bis 2020 geltende Vorläuferbeschluss, zu einem legitimierten Landraub im Namen eines falschen Naturschutzes zu werden, der gleichermaßen zu massiven Menschenrechtsverletzungen, einer 300millionenfachen Vertreibung und einer Verschärfung der Klimakrise führen würde.
Eduardo Galeanos Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ aus den 70er Jahren und die Mitwirkenden des Alternativkongresses „Our land, our nature – decolonize conservation“ von survival international im Vorfeld des Weltnaturschutzbund (IUCN)-Treffens im September 2021, auf dem Betroffene und Engagierte aus allen Teilen der Erde von den aktuellen Vertreibungen und Diskriminierungen im Namen dieses Naturschutzes berichteten (9), bezeugen wie ein Reigen das nahtlos vorhandene und immer gleiche koloniale Ausbeutungsschema unter verschiedenen Titeln.
„Wir müssen zusammenarbeiten. Wir sind von der Erde abhängig!“ (10)
Weltweit kämpfen die betroffenen Gemeinschaften zurzeit verstärkt darum, Land- und Waldrechte gewährleistet zu bekommen und gemeinsam über einen wirksamen Klimaschutz zu beraten: „Wir schlagen gezielte Lösungen vor, die auf dem Wissen dieser Gemeinschaften basieren und sich als Schlüssel der Klimakrise erwiesen haben.“, so Militza Flaco, Angehörige des indigenen Volkes der Emberá Querá aus Panama. (11)
In diesem Sinn formulierten auch der Zusammenschluss der lateinamerikanischen ALBA-Staaten, indigene und nicht-indigene Naturschutz-Aktivist:innen und Expert:innen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Einzelpersonen, NGO’s und der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Menschenrechte und Umwelt, David Boyd, ihre unmissverständliche Besorgnis über dieses Projekt sowie konkrete Vorschläge und Forderungen nach einem grundlegend neuen Ansatz eines globalen, echten Naturschutzes, der in seinem zentralen Anliegen auf den Menschenrechten basiert und dem Schutz der indigenen Völker und lokalen Gemeinschaften als die „gerechteste, effektivste und effizienteste Strategie, die biologische Vielfalt in bestmöglichem Umfang zu schützen“. (12) Dazu gehören die volle Anerkennung der traditionellen Landrechte und Ressourcen indigener Völker und lokaler Gemeinschaften, die Anerkennung ihres Wissens und einer mindestens paritätischen Partnerschaft im Klima- und Biodiversitätsschutz durch ein volles Mitspracherecht, das Zusammendenken des sich gegenseitig bedingenden Schutzes von Klima- und Biodiversität sowie das Einbeziehen der Ursachen, das heißt, über konkrete Umweltschutzmaßnahmen hinaus muss der Ressourcenabbau für Produktion und Konsum nicht kompensiert, sondern verringert werden.
„Die Natur ist nicht von uns getrennt.“ (13)
Im Umgang mit der Erde spiegelt sich die grundsätzlich unterschiedliche Wahrnehmung und Beziehung der Menschen von industriellen und indigenen Gesellschaften zur Welt. Die einen nehmen die Aspekte der Natur als von sich selbst getrennte Objekte wahr. Auf diese Weise weist man der Erde einen rein ökonomischen Wert zu und kann sie besitzen und in sie investieren. Die anderen sehen die Erde und alle ihre Facetten als Subjekte, als lebendige Wesen, die sie wie eine Mutter nährt und versorgt mit allem, was zum Leben benötigt wird. Man kann sie nicht besitzen, daher gibt es kein Wort für Eigentum. Hier sind die Menschen integrierter Teil des Ganzen. Dahinter steht eine Kosmovision, in der alles zu derselben Realität gehört und in Beziehung zueinander steht. Auch die konzeptionelle Struktur der indigenen Sprachen repräsentiert diese Sicht. Im Vordergrund steht folgerichtig nicht das isolierte Wohl des Einzelnen, sondern, ohne es zu beschneiden, in seiner Wechselwirkung und im Gleichgewicht mit dem der Gemeinschaft und der Erde als Lebensraum.
Dieser systemische und nachhaltige Blick, der alle Lebensbereiche vom Umgang mit der Erde bis zu Medizin, Bildung und Landwirtschaft prägt und in gegenwärtigen Handlungen und Entscheidungen Ursachen und Auswirkungen berücksichtigt, kann uns allen im Hinblick auf einen notwendigen Paradigmenwechsel nicht nur des Naturschutzes wertvolle Hilfe sein.
„Erst wenn Weiße etwas ‚entdecken‘, das andere schon längst kennen, wird es Realität und Teil der ‚offiziellen‘ Menschheitsgeschichte“ (14)
Die Zeichen sind also gesetzt: Die Dringlichkeit des Handelns steht außer Frage; die Bedeutung der Wissenssysteme indigener Völker im Ringen um das ökologische Gleichgewicht sind wissenschaftlich belegt; Gerichte und zuletzt der Menschenrechtsrat entscheiden wegweisend zugunsten von Klimagerechtigkeit, einem konsequenten Handeln und einer gesunden Umwelt; die Unvorhersehbarkeit des Verlaufs der Krisen, ihre Komplexität, die kaskadenförmigen Wechselwirkungen und der Bruchteil an Wissen, auf dem unsere Berechnungen beruhen, führen uns immer wieder vor Augen, dass wir die Dinge nicht kontrollieren können, geschweige denn verhandeln, wie viel Jahre wir noch haben, um nichts grundlegend ändern zu müssen.
Es bleibt die Frage: Wie weit ist es nötig, dass alle den formell gleichen Rahmen haben, um mit einem paritätischen Stimmrecht ihr Wissen für einen globalen Umweltschutz zusammenzubringen? Ganz grundsätzlich, – und hier im besonderen Hinblick darauf, dass Jeder*m bewusst sein wird, dass Indigene Völker grundsätzlich in Entscheidungen, die sie betreffen, miteinbezogen werden müssen.
Oder anders gesagt: Sind wir bereit, – statt weiterhin simpel Macht auszuüben und auf Statuten zu pochen, – das ganze Bild mit seinen Zusammenhängen zuzulassen, für die Folgen unseres Handelns „die Verantwortung zu übernehmen“, wie Großbritanniens Premier Boris Johnson als Vertreter der ehemals größten Kolonialmacht im Vorfeld der Weltklimakonferenz markig betonte (15), und in einen der aktuellen Situation angemessenen Dialog auf Augenhöhe zu treten, zu dem möglicherweise auch der Rückzug aus fremden Souveränitäten gehört.
Anmerkungen
1) 15. UN-Biodiversitätskonferenz (COP15) digital 11. bis 15. Oktober 2021/ vor Ort 17. bis 30. Mai 2022 in Kunming/ China/ 26. UN-Klimakonferenz (COP26) 31. Oktober bis 12. November 2021 in Glasgow/ Großbritannien
2) Antwort der Aboriginal People, wenn sie gefragt werden, woher sie kommen, in: pogrom, Ausgabe 3/2016, Seite 14.
3) https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-neugier-genuegt-freiflaeche/audio-urwaelder–schon-immer-bewirtschaftet-100.html
4) https://www.deutschlandfunkkultur.de/erhalt-der-biodiversitaet-ein-drittel-der-erde-soll-unter.976.de.html?dram:article_id=502745
5) Kipchumba Rotich, Führer des Sengwer-Volkes, Kenia, https://www.youtube.com/watch?v=WeHiclGvVh0&t=1888s
6) https://news.univie.ac.at/uniview/wissenschaft-gesellschaft/detailansicht/artikel/indigene-voelker-als-hueterinnen-der-artenvielfalt
7) https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/abholzung-in-brasilien-indigene-voelker-schuetzen-um-den-regenwald-zu-retten; https://www.survivalinternational.de/nachrichten/7869
8) Absalón Arango, leader of the Yussy Monilla Amena indigenous community, Kolumbien, precop biodiversity 2021
9) https://www.youtube.com/watch?v=WeHiclGvVh0
10) s.8)
11) https://www.youtube.com/watch?v=d3Albrnb8PE (Militza Flaco)
12) https://www.survivalinternational.de/nachrichten/12641;https://assets.survivalinternational.org/documents/1972/en-fr-es-it-de-200928.pdf; https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Environment/SREnvironment/policy-briefing-1.pdf; https://www.forestpeoples.org/sites/default/files/documents/HR%20Env_signatory%20letter_english.pdf;https://assets.survivalinternational.org/documents/2019/211013-olon-manifesto-en-es-fr.pdf;https://amerika21.de/2021/09/253695/alba-klimagipfel-glasgow-mutter-erde
13) Davi Kopenawa, Yanomami, Brasilien
14) Artikel „Wir waren schon immer hier!“ von Marion Caris in: pogrom, 3/2016, survival international
15) https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Klimaschutz-Johnson-Klimakonferenz-ist-Wendepunkt-fuer-die-Welt-id60599691.html