Allgemein Konsum, Kolonialismus, Klima

Nach Corona ist vor Corona?!

In einem Wassertropfen steckt ein kleiner Kosmos

Von den Ursachen hinter den Ursachen und der dringenden Notwendigkeit, das ganze Bild zu sehen

Nicht nur angesichts des schockierenden, aktuellen Berichts des Weltklimarates IPCC vom 9. August 2021 (1) und dem vor wenigen Tagen durchgesickerten Entwurf eines zusätzlichen Kapitels, in dem selbst die Beschränkung auf 2 Grad Erwärmung in Frage steht (2), ist es notwendig, einen Gesamtblick auf das vorhandene Bild der Welt zu werfen. Auch die massiven, sozialen Ungerechtigkeiten, die mit dieser Krisenentstehung ursächlich zusammenhängen und allein bisher nicht auszureichen schienen, um einen grundsätzlichen, gesellschaftlichen Diskurs zu führen, müssen parallel zu dem Bekämpfen der Auswirkungen mit einbezogen werden und sollten uns zu der Frage führen: Welche Basis wollen und brauchen wir, um die Krisen und ihre Ursachen zu überwinden? Vorhandene Prinzipien alter Kulturen können kluge Wege eröffnen und zugleich ein jahrhundertealtes Ungleichgewicht in die Balance bringen

„Das ist Hoffnung, dass ist die Sonne am Horizont, die aufgeht für die Tourismusbranche.“ Mit diesen Worten, bei einer offensichtlich „ungebrochen großen Nachfrage reisewilliger Kreuzfahrt-Fans“, kommentierte ein AIDA-Sprecher auf WDR 5 das „Leinen-los“ für das erste Schiff „nach“ Corona (3) und die aktuellen Meldungen bestätigen: „Die Wirtschaft wächst wieder, die Menschen konsumieren… .“ (4) Angesichts weltweiter Unwetterkatastrophen, wie jetzt auch in Deutschland das Hochwasser in der Eifel und dem Ahrtal, das uns auf bittere Weise auf Augenhöhe mit der Welt gebracht hat, wirkt es wie ein zynisches Theaterstück, dass die Realität karikiert. Doch das ist es nicht – und immer noch scheint es zu Wenige zu irritieren.

Der bedrohte Zustand der Erde, seit Jahrzehnten mit einer kaum zu vergleichenden, gesicherten Datenlage benannt und angemahnt, und die daraus resultierende, logische Schlussfolgerung, umgehend und umfassend zu handeln und alle bekannten, teils hinreichend erprobten Klimaschutzmaßnahmen entschlossen umzusetzen, lässt keinen Raum für Unwissenheit und Ausreden. Regelmäßig wie jetzt auch in den aktuell veröffentlichten IPCC-Berichten werden die vormals gewonnenen Erkenntnisse negativ übertroffen. Dass heißt, die Auswirkungen unseres Tuns sind stärker als angenommen und treffen schneller ein als bisher errechnet. So bleiben uns nach den neuesten, ausgewerteten Daten nur wenige Jahre, um 1,5 Grad und offensichtlich selbst das Überschreiten der 2,0-Grad-Linie dauerhaft abzuwenden. (5) Aussagen, die eigentlich einen solchen Schub auslösen sollten, dass er alles Ego-Gehabe, Hierarchien und trennende Strukturen zerschmettert und ein beherztes, nüchternes, klares, gemeinsames und eher zügigeres und weitreichenderes Handeln fördert statt bremst. Aber – wie wir wissen – tut es das nicht. Auch der Schock der Corona-Pandemie, der die sozialen und globalen Ungerechtigkeiten und Wunden auf jeder gesellschaftlichen Ebene schmerzlich offenlegte, hat nach einem erschrockenen Atem anhalten, in dem die Gleichheit in unserer Verletzlichkeit, das Ausmaß der globalen Krise und die Notwendigkeit des gemeinsamen Handelns für einen Moment glasklar wahrnehmbar waren, nur kurz gewirkt. Dann brach der Lärm der Verdrängung und der unsäglichen Gier wieder los und die ersten Korruptionen bahnten sich auch hier ihren Weg und nahmen mit fortschreitender Gewöhnung an die Pandemie Schwung auf. (6)

„Die erste Voraussetzung, die Wirklichkeit zu verändern, besteht darin, sie zu kennen.“

Dieser essenzielle Satz, den der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano Ende der siebziger Jahre im Vorwort zu seinem im umfassenden Sinn aufklärerischen und immer noch aktuellen Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ schrieb, birgt viele Schichten.

Um die Wirklichkeit zu kennen, auch zu erkennen, braucht es die Einordnung aller Ereignisse in eine historische und globale Geschichte, das Sichtbarmachen der Zusammenhänge, der Bezüge zu Vergangenheit und Gegenwart, zum Lokalen, das Erkennen unseres Platzes darin und das Fragen nach den Ursachen hinter den offensichtlichen Auslösern der Krisen.

Das ganze Bild betrachten

Alle Teile freizulegen und in einen Zusammenhang zu stellen, zeigt, dass es keine parallel existierenden, voneinander getrennten Geschichten gibt, nur eine, die jeweils unvollständig erzählt wird. So konnte beispielsweise die blutige Invasion Zentraleuropas und der Katholischen Kirche in das heutige Gebiet Zentral- und Südamerikas zu einer Entdeckung umdeklariert und hartnäckig verteidigter Bestandteil der abendländischen Historie als zum Beginn der Neuzeit gehörend werden, ohne an adäquater Stelle zu erwähnen, dass der Reichtum, aus dem sich der Kapitalismus entwickelte, auf der Ermordung und Ausrottung, Zerstörung und Plünderung der dort bereits existierenden Gesellschaften und ihrer hochentwickelten Kulturen beruhte. So konnte in der Folge die Bedeutung beständig wachsenden Konsums als Dreh- und Angelpunkt des Kapitalismus als eigene Leistung und Fortschritt deklariert und seine Produkte losgelöst von den Umständen ihres Entstehungsprozesses wahrgenommen werden, zu denen im ganzen Bild ursächlich die Unterwanderung lokaler Märkte und wirtschaftlicher wie politischer Souveränitäten der rohstoffreichen und produzierenden Länder gehören, Umweltzerstörung, Hilfen, die Abhängigkeiten erhalten, Kriegshandlungen und Waffenhandel, Drogenkartelle, Korruption, Mord, Sklaverei, Vertreibung, Flucht, Raubbau und Bodenraub sowie ein soziales Ungleichgewicht, dass systemimmanent aufrecht erhalten werden muss.

Der Wert und die Aktualität Galeanos’ Buch, in dem er bis in die feinen Verästelungen die Eroberung, Kolonialisierung und gemeinschaftliche Ausbeutung des lateinamerikanischen Kontinents durch Nordamerika und Zentral-Europa beschreibt, liegen in den bis heute erkennbar identischen Handlungen mit lediglich wechselnden, begehrten Schätzen, Ländern und Methoden. Gegenwärtig ist das bekannteste Beispiel der aggressive Kampf um die Lithiumvorkommen Boliviens, das vor allem im Zuge des europäischen so genannten Green New Deal für die Umsattlung auf Elektro-Autos benötigt und darüber als Garant für eine ökologische Mobilitätswende propagiert wird, während es im Grunde darum geht, eigene Absatzmärkte zu erhalten und zu erweitern, einmal mehr durch das zeitgleich verhandelte, umstrittene Freihandelsabkommen Mercosur. Das hat weder mit respektvollem Dialog noch mit ökologischer Wende etwas zu tun.

Akteure benennen und Machtstrukturen offenlegen

Dementsprechend gehört zum Erstellen des ganzen Bildes ebenfalls das Identifizieren und Benennen einzelner, auch lokaler, Akteure, Unternehmen, Politiker und Regierungen und ihrer ursächlichen Absichten und Vorgehensweisen sowie das Offenlegen zugrundeliegender Machtstrukturen, die weiterhin von der jetzigen Version, getrennt in Arm und Reich, Nord und Süd, profitieren wollen.

Recherchen, Berichte und Erfahrungen machen immer wieder sichtbar, wie dicht, weitverzweigt, janusköpfig, skrupellos und bestechlich auf diesen Ebenen agiert wird. Das umfasst die Maskenaffäre mitten in der Coronakrise genauso, wie die Verschwendung von Steuergeldern in der Mautaffäre (7), illegale Waffenlieferungen in mexikanische Krisengebiete, ermöglicht durch eine mangelnde Sorgfaltspflicht der zuständigen Ausfuhrbehörde (8) oder die knallharten Verhandlungen europäischer Lebensmittelketten, ermöglicht durch deren Monopolstellung und die Bedürftigkeit und Abhängigkeit insbesondere der ArbeiterInnen und kleineren Landwirte am Ende der Kette in Osteuropa oder den Plastikmeeren an Gewächshäusern in Andalusien, damit wir unabhängig von der Jahreszeit und zu stabil günstigen Preisen (Bio-) Obst und Gemüse kaufen können. (9/10)

Umgekehrt können sich betroffene Akteure durch beständigen Protest gezwungen sehen, sich zu outen, wodurch auf andere Weise sichtbar wird, wie das System arbeitet und wie viel Demokratie gewollt ist, wenn dahinterliegende Machtstrukturen berührt werden: Das haben die Bewohner des Südtiroler Dorfes Mals bewirkt und erlebt, als sie sich gegen Pestizide in ihrer Gemeinde entschieden und unbeabsichtigterweise sukzessive eine mäandernde und aggressive Lobby aus Bauernbund, Landesregierung und Pharma-Konzernen offenlegten, je weiter ihr Protest ging. (11)

Diskrepanz zwischen Worten und Taten wahrnehmen

Eine besondere Brisanz bekommt es, wenn angesichts der Notwendigkeit einer entschiedenen Kehrtwende in der Klimapolitik der auf kluge und millionenfache Weise geäußerte Willen der Bürgerinnen und Bürger – ob in Klimaentscheiden wie germanzero oder Bewegungen wie fridays/ parents/ scientistsforfuture – nicht entsprechend gewürdigt und nachgekommen wird. Im Gegenteil scheint es, dass statt eines offenen, demokratischen Zusammenspiels zwischen Gemeinschaft und deren Vertretern die Bürger um ihre politische Repräsentation kämpfen müssen, wenn selbst auf (kassierende) Klima-Bürgerentscheide Antworten wiederholt verzögert werden, während der eigentliche Auftrag, – die Fürsorge und der Erhalt des Gemeinwohls –, unerfüllt bleibt. (12)

Das ist nicht nur ein herber Verlust an grundsätzlicher Glaubwürdigkeit und Vertrauen, – einmal mehr durch den zwiespältigen Umgang mit dem in unserer Gesellschaft hohen Ansehen wissenschaftlicher Erkenntnisse, – mal wird auf sie Bezug genommen wie in der Coronakrise, mal werden sie außer Acht gelassen wie in der Klimakrise –, sondern mit dem jahrzehntelangen Verzögern und Verschieben des Beginns der sozial-ökologischen Umstrukturierung auf die jeweils nächste Regierungsperiode zutiefst fahrlässig und verantwortungslos. Es führt zu der berechtigten Frage nach dem Grund für ein solches Handeln, nach einer naheliegenden Verflechtung von Politik und Wirtschaft sowie der Frage nach dem Umgang mit Macht und Verantwortung und unserem persönlichen Bezug dazu.

Es ist gut, darum zu wissen, dass Proteste, Aktionen und Widerstände vermutlich selten dem direkten Anlass dienen. Zugleich sind sie unabdingbar, um genau auf diesen Teil der Wirklichkeit aufmerksam zu machen.

Ursachen hinter den offensichtlichen Auslösern der Krisen

Das Funktionieren des Kapitalismus, sein Motor, beruht auf dem Hervorrufen von Begehrlichkeiten und ihrem Nachgeben – dem Konsumieren, dem in Anreizen verpackten Bewegen – und Vermehren – von Geld. Also dem Zusammentragen von und Beschäftigen mit Dingen, die über den ursprünglichen Sinn dieser Dinge und dem Bedarf zum Leben weit hinausgehen.

Angesichts der massiven Auswirkungen dieses unverhältnismäßigen Konsums, der Absurdität, die es angenommen hat und dem hartnäckigen Festhalten daran stellt sich im Hinblick auf eine möglichst umfassende, wirksame und gerechte Entwicklung konsequenterweise auch die Frage nach dem „Weshalb?“ des Konsumierens.

Was hat uns so handeln lassen, dass wir jetzt – trotz aller Warnungen – vor einem Kipppunkt der Erde stehen, einem Massensterben der Arten?

Zusammengefasst könnte man sagen: Wir haben den Kontakt verloren. So beschreiben es die Vertreter ursprünglicher Völker als dahinter liegende Ursache. Sie sprechen von dem verlorenen Kontakt zwischen Individuum und Gemeinschaft, unserem Verlust der Verbindung zur Erde, der Überbetonung des Verstandes, der verlorenen Fähigkeit zuzuhören und mahnen seit Langem vor den Auswirkungen auf die Umwelt und das Zusammenleben.

Radwa Khaled-Ibrahim beschrieb es in ihrem Artikel „Teil der Welt“ vom 22. Juli 2021 anlässlich der Hochwasserkatastrophe in Deutschland als die Notwendigkeit, dass sich die Länder Mitteleuropas ‚„(…) re-member-n“‘ müssen. Eine Mischung aus remembering, erinnern, sich kritisch mit der eigenen Geschichte in der Welt beschäftigen, und re-membering, also wieder Mitglied werden. (…), sich auf eine Art in die Welt zu fügen, die für alle und alles ein gutes Leben ermöglichen kann.“ (13)

Der Älteste der Assonet Wampanoag, Manitonquat, sieht in der Folge des verlorenen Kontaktes Gewalt und Entfremdung als Ursachen des beginnenden Abstiegs der Zivilisation sowie deren zugrunde liegenden Konzepte von Angst und Dominanz, wodurch die Welt anfing, aus dem Gleichgewicht zu geraten: „Gesellschaften, die für alle Menschen gut funktionierten, waren Gesellschaften, die auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt basierten. Die dominierende Kultur der Welt, ob kapitalistisch oder kommunistisch, ist dominant, weil sie unterdrückt. Ich weiß nicht, was zuerst kam, die Angst oder die Dominanz, aber sie nähren sich gegenseitig.“ (14)

Mit dem Verlust des Bewusstseins über die Eingebundenheit erleben wir uns als isolierte Individuen. Das permanente Bedürfnis, etwas zu brauchen, jenseits von echtem Hunger, Durst oder Schutz, um uns fortwährend selbst zu bestätigen, – durch etwas zu denken, zu beschäftigen oder zu besitzen, – und das (selbst-) zerstörerische Verhalten, das wir dabei an den Tag legen, zeigt das Ausmaß dessen.

In diesem Gefühl der Getrenntheit, in dem wir, wie in der fragmentierten Welt-Geschichte, nur einen Teil sehen, nimmt sich das Individuum als außerhalb stehende „Besonderheit“ wahr und darüber Sinn und Recht sich auszuleben, und nicht als „Verschieden von dem Anderen“, was Integriertheit und Vielfalt ermöglicht.

Der partielle und außenstehende Blick auf die Welt ruft zudem die Illusion hervor, die Dinge kontrollieren zu können, indem die über unsere Wahrnehmung hinausgehenden Auswirkungen und Konsequenzen unseres Handelns ausgeblendet und als zu einer anderen Geschichte gehörig interpretiert werden. Auf diese Weise geht es meist um Schuld, Recht und Unrecht statt Verantwortung, Reflektion und Lernen.

Die Wirklichkeit zu kennen eröffnet Möglichkeiten der Veränderung

Die Zusammenhänge und Akteure der Wirklichkeit zu kennen und nüchtern zu betrachten zeigt Möglichkeiten und Handlungsoptionen, gezielt zu agieren und Zeichen zu setzen. So können wir konkret und bewusst entscheiden, auf welche Weise wir das Geld, das uns zur Verfügung steht, verwenden und wem wir es geben wollen. Diese Entscheidungen alleine sind eine wirksame Macht und können sofort und ohne Aufwand umgesetzt werden. Sie sondieren Unternehmen und stärken, wenn gewollt, ökologisch und arbeitsrechtlich verantwortungsbewusste Anbieter und Initiativen und bauen lokale und regionale Netzwerke auf. Wir können uns entscheiden, weniger zu konsumieren, zu tauschen, können es individuell umsetzen oder in Gruppen organisieren. Wenn es genügend machen, wird es zu einer Bewegung. Daraus erwächst gegenseitige Bestärkung und ein immer gerichteteres Handeln.

Doch so lange gesellschaftliche Prägungen und innere Konzepte bestehen bleiben, passiert es immer wieder, dass ursprünglich engagierte und mit teils großen Visionen gestartete Initiativen an Kraft und Ausrichtung verlieren, unausgesprochene Hierarchien, starre Konzepte oder Strukturen entstehen, die einen offenen Austausch und Entwicklung erschweren und gerade in Krisensituationen auftretende Differenzen nicht mehr konstruktiv überwunden werden können.

Rückwärtsblickend vorwärtsgehen Teil I

Diese Formulierung stammt aus den andinen Traditionen. Rückwärtsblickend, um zu lernen und sich selbst, die Gegenwart und Zukunft stetig zu verbessern und vorwärtsgehen, um sich nicht in der Vergangenheit zu verlieren und in der Praxis zu bleiben.

Betrachtet man auf diese Weise die Ursachen von Scheitern oder Schwierigkeiten westlicher Kommunen, Projekte und Bewegungen und bezieht die individuelle, innere Wirklichkeit als weiteren Aspekt des ganzen Bildes mit ein, kristallisieren sich einige Notwendigkeiten oder auch Prinzipien heraus:

  • Eine Kommunikation, die vor allem dem „in-Beziehung-treten“ dient

  • Respekt

  • Der Aufbau einer tragfähigen Gemeinschaft

  • Ein reflektierter Umgang mit Macht

  • Die Bereitschaft des Lernens

  • Reden (Konzept) und handeln (Leben) verbinden

  • Die Prozesshaftigkeit des Wegs anerkennen

  • Eine innere, paritätische Haltung Verschiedenheiten gegenüber

  • In Ergänzungen statt Gegensätzen denken

  • Sich selbst nicht so wichtig nehmen.

Sie stehen in ihrem Vorhandensein oder Mangel exemplarisch für den Unterschied zwischen den vorwiegend intellektuell erarbeiteten Konzepten unserer Wege und den gewachsenen, eingebetteten und gelebten Prinzipien indigener Bewegungen. Diese Prinzipien vertreten eine Kultur des Lebens, die alle Bereiche umfasst und Integration, Komplementarität und Ganzheit zum Inhalt hat statt Trennung und Klassifizierung. Das betrifft gleichermaßen den sozialen Aufbau von Gesellschaften und dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, die Wahrnehmung der und Fürsorge für die Erde und die entsprechende Bewirtschaftung des Landes, Medizin und Gesundheit, Kultur und Entwicklung. Es ist kein starres Konzept, sondern verkörpert die jahrtausendealten, gesammelten und bewahrten Erfahrungen und Kenntnisse der Alten Völker über ein Leben im Gleichgewicht, beruhend auf den komplexen, energetischen Universalgesetzen der Interdependenz, – der wechselseitigen Beziehung allen Seins – sowie der Harmonie, auf dem die innere Balance all dessen beruht.

In Lateinamerika heißt diese Kultur des Lebens, eines Lebens mit Würde, Vivir Bien oder auf Quechua Sumak Kawsay. 2008/2009 ist sie in die Verfassungen von Ecuador und Bolivien aufgenommen worden und damit auch das juristische Recht der Erde auf umfassenden Schutz. Auch in Europa ist Vivir Bien viel beachtet und diskutiert gewesen, ohne jedoch umfassend umgesetzt worden zu sein. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen.

Den Weg auf eine neue Weise gehen

Rückwärtsblickend vorwärtsgehen II

Eine andere Form des Zurückblickens gibt manchmal auf eine Weise Informationen, die die einzelnen Apekte einer Sache in einen machtvollen kausalen Zusammenhang stellen und Wege und Handlungsoptionen in der Gegenwart offenbaren:

In diesem Jahr, 2021, jährt sich zum 500. Mal mit einer der zahlreichen Greueltaten die Konquista: die Zerstörung der Azteken-Hauptstadt Tenochtitlán, auf dessen Ruinen das heutige Mexiko-Stadt errichtet wurde. Ohne das es speziell dieses Jahr sein müsste, weisen mehrere Punkte auf einen solchen Zusammenhang hin: die dramatisch zugespitzte Situation der Erde und damit unser aller Leben; die spezielle Historie der Länder Zentraleuropas, die mit ihrem Handeln ausgehend von der Konquista für die Entstehung des Kapitalismus und mit dem unverminderten Aufrechterhalten ursächlich für die aktuelle Situation verantwortlich sind; die Jährung, die die Dauer der Ausbeutung sowie die Nichtbeachtung des alten Wissens vor Augen führt und die immer noch offenen Adern Lateinamerikas, stellvertretend für die Alten Völker der Welt; das Fehlen jeglicher konkreter, schlüssiger Ansätze, die der globalen Krise angemessen wären, als auch ein zugrundeliegendes Wissen, aus dem ein solcher Ansatz geschöpft werden könnte.

So scheint es, dass die Dinge einmal um 180 Grad gedreht werden müssen und es für einen nachhaltigen Weg aus der Krise zum einen darum geht, die historischen Ereignisse und ihren Platz in der globalen Geschichte sowie die damit einhergehende Verantwortung Zentraleuropas anzuerkennen und anzunehmen; daraus resultierend die jahrtausendealten, vielfältigen Kulturen und die heutigen indigenen Gesellschaften als ihre Nachfahren sowie deren (bewahrtes) Wissen über das Herstellen und Erhalten eines Lebens im Gleichgewicht zu respektieren und zu würdigen; im Sinne der Gemeinschaft und der Größe der globalen Aufgabe einzugestehen, dass wir, die Industrienationen, nicht wissen, wie wir diese Situation bewältigen können und technologische Entwicklungen bei altem, wettbewerbsorientiertem Denken, wie es sich in den Absichtserklärungen von CO2-Projekten manifestiert hat, kaum ausreichen.

Vivir Bien

Der Titel der 200 Seiten umfassenden Edition des bolivianischen Außenministeriums anlässlich der Verfassungsänderung heißt: „El Vivir Bien como respuesta a la Crisis Global“ – „Das Vivir Bien als Antwort auf die Globale Krise“.(15)

Humberto Cholango vom Indígenaverband CONAIE, einem der stärksten sozialen Bewegungen Ecuadors, antwortet auf die Frage, ob Vivir Bien auch auf westliche Kulturen übertragen werden kann: „Aber natürlich, es ist kein Konzept nur für die Indigenen, auch wenn es dort seinen Ursprung hat. Im Gegenteil, es muss für alle Menschen gelten. (…) Das Buen Vivir ist ein Modell, das ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Aspekten des Menschseins und der Harmonie mit der Natur anstrebt.“ (16)

David Choquehuanca-Céspedes, Aymara-Ältester und aktueller bolivianischer Vizepräsident, der damals an der Verfassungsänderung mitarbeitete, fasst die Rolle des Vivir Bien so zusammen: „Bisher gab es die beiden Wege – Kapitalismus, er führte zur globalen Krise, und Sozialismus, er berücksichtigt nur den Menschen, und plötzlich taucht da dieser Vorschlag auf, der besagt: „Das Wichtigste ist das Leben.“ und weit über den Sozialismus hinausgeht. Man könnte sagen, es sind Ergänzungen. Denn wir suchen, wonach der Sozialismus sucht, aber gehen ein wenig weiter. Das Wichtigste ist nicht nur der Mensch, es ist das Leben.“ (17)

Das gelingt, indem die Prinzipien des Vivir Bien immer alle Aspekte integrieren und berücksichtigen: Statt des individuellen Wohlergehens des Einzelnen – vivir mejor (besser leben) – steht das Wohlergehen aller im Zentrum, Vivir Bien (gut leben in Würde), ohne das Individuelle zu übergehen, das sich jedoch als Teil des Ganzen ausdrückt statt als isoliertes Einzelnes; statt des Mehrheitsprinzips der repräsentativen Demokratie gibt es eine Form des Konsens‘, in dem die Verschiedenartigkeit bestehen bleibt und zugleich in der Einigung etwas entsteht, das allen dient. Das ist nur möglich, wenn die Welt als Komplementäre wahrgenommen wird, sich ergänzend und vervollständigend, statt als Gegensatz und sich ausschließend.

Wenn ein Land wie Bolivien, dass zigfach ausgebeutet wurde und aktuell wegen des Lithiums im Brennpunkt kapitalistischer Interessen steht, sagen kann: „Angesichts der Geschehnisse in der globalen Krise könnten wir einfach sagen, dass die reichen Länder die Schuldigen sind und sie diejenigen sein sollten, die das Problem lösen müssen. Aber wir alle haben eine Verantwortung (…).“ und eindringlich an die Staatengemeinschaften, Sozialen Bewegungen und internationale Organisationen appellieren, in den Dialog zu treten, um gemeinsam unsere Zukunft zu konstruieren, (18) dann muss es möglich sein, uns angesichts der Situation vorurteilsfrei und mit Respekt mit an den Tisch zu setzen, zuzuhören und zu lernen.

Dialogar – ein Ansatz für die Praxis

Es ist unsere Pflicht miteinander zu reden, unsere Pflicht, uns zu verständigen, es ist ein Prinzip des Vivir Bien, des Guten Lebens.“ So begann David Choquehuanca-Céspedes seine Antrittsrede am 08. November 2020, die besonders im Westen große Resonanz fand und in der er das Konzept des Vivir Bien beschrieb. (19)

Dialogar – in diesem ersten Prinzip des Guten Lebens, das viel mit Zuhören zu tun hat, „in Beziehung treten“ und „in Kontakt sein“, liegt der Ansatz, ins Handeln zu kommen, sich gegenseitig zu unterstützen, sich auf eine gemeinsame Ausrichtung in der Verschiedenheit zu verständigen, Netzwerke zu bilden und tragfähige Gemeinschaften aufzubauen, – von der kleinsten Einheit in Partnerschaft und Familie über alle Bereiche des sozialen Lebens. Das kann sich bis zum politischen Bereich ausdehnen im Sinne der Entwicklung einer sozialen Macht, wie die Zapatistas es beispielsweise in der Anderen Kampagne leben, die auf friedlichem Weg Kämpfe und Widerstände vereint. Sie beschreiben die Soziale Macht, sich auf Marx berufend, als eine, „welche direkt aus der einfachen elementaren Verbindung der Menschen untereinander und dem Austausch zwischen den Menschen entspringt.“ (20) „Das Buen Vivir lässt sich nicht von oben verordnen, es kann nur aus dem Dialog entstehen, in dem man sich zusammensetzt und entscheidet.“, ergänzt Humberto Cholango. (21)

Wird diese Form des Dialogs als offener Prozess wahrgenommen, trägt es zu einem Boden bei, auf dem ein gesellschaftlicher Wandel aus sich selbst heraus entstehen kann und den Weg weist.

Nach Corona“ kann kein „vor Corona“ sein

Denn das „vorher“ war auch schon ungleichgewichtig und hat das Jetzt kreiert. Wenn wir also wirklich ein „so wie vorher“ haben wollen im Sinne eines „besser als Jetzt“, müssen wir einen konsequent anderen Weg als den bisherigen wählen.

Eine umfassende und respektvolle Zusammenarbeit mit den indigenen Gesellschaften, die das Wissen um ein Leben im Gleichgewicht bewahrt haben, zurzeit 80 Prozent der Biodiversität des Planeten erhalten (22) und seit langer Zeit auf die Auswirkungen des kapitalistischen Systems hingewiesen haben, ist dafür eine mehr als notwendige Voraussetzung.

Möglicherweise stellt sich in der ernsthaften Auseinandersetzung mit deren alten Wissenschaften heraus, dass die bestehenden Konzepte gut genug sind und es auch darum geht, uns wieder in ihnen zu begegnen.

Anmerkungen

1) https://www.jungewelt.de/artikel/408031.aktueller-weltklimabericht-des-ipcc-enormes-tempo.html; https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2021-08/klimawandel-ipcc-bericht-weltklimarat-erderwaermung-extremwetter

2) https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/ipcc-weltklimabericht-101.html

3) https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-profit-aktuell/audio-sie-schippern-wieder—kreuzfahrtbranche-vor-dem-neustart-in-kiel-100.html

4) https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/wachstum-deutsche-wirtschaft-fruehjahr-101.html

5)https://www.deutschlandfunk.de/weltklimabericht-des-ipcc-wissenschaftler-warnen-vor.2897.de.html?dram:article_id=501464

https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/klimabericht-kapitel-geleakt–erhitzung-auf-2-grad-zu-begrenzen–schon-fast-aussichtslos-30667806.html

6)https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.cdu-politiker-nikolas-loebel-firma-von-cdu-politiker-erhielt-provisionen-fuer-corona-masken.a0198087-f8da-4a5c-97ee-7494b1981747.html; https://www.faz.net/aktuell/politik/masken-affaere-georg-nuesslein-tritt-aus-der-csu-aus-17233452.html

7)https://www.zdf.de/nachrichten/politik/scheuer-maut-ermittlung-100.html

8)https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/heckler-und-koch-bgh-bestaetigt-weitgehend-urteile-wegen-waffenlieferungen-nach-mexiko-a-e06d12e1-2348-4cac-bb7c-6966f182199a

9)https://www.br.de/nachricht/b5-reportage-moderne-sklaven100.html

10)https://www.stern.de/wirtschaft/news/bio-essen-wahrheit-lebensmittel-7209494.html

11) https://taz.de/Suedtirol-klagt-gegen-Umweltschuetzer/!5712675/

12)https://klimaentscheid-essen.de/stellungnahme-wir-erwarten-ein-bekenntnis-zum-15-grad-ziel/

13)https://www.medico.de/blog/teil-der-welt-18299

14) Manitonquat/ Medicine Story: „Der Weg des Kreises“, Biber-Verlag, 2000, S.68

15)https://www.cancilleria.gob.bo/webmre/sites/default/files/libros/03%20el%20vivir%20bien%20como%20respuesta%20a%20la%20crisis%20global.pdf/ El Vivir Bien como respuesta a la Crisis Global“, Ministerio de relaciones exteriores, Segunda Edición, Diciembre 2009, pdf-Datei

16) Humberto Cholango, in: „Her mit dem guten Leben“, Informationsbüro Nicaragua e.V. (Hrsg.), nahua-script 14, 2011, S. 34

17) https://www.youtube.com/watch?v=H1TDpA8H8o4 (Conferencia “Proceso de cambio y el vivir bien”. D. Choquehuanca Céspedes, Ministro de Relaciones Exteriores del Estado Plurinacional de Bolivia. Salón de Pinturas del Colegio Fonseca. 14 de enero de 2016)

18) El Vivir Bien – como respuesta a la crisis global, S.199

19) https://amerika21.de/dokument/245279/bolivien-david-choquehuanca-antrittsrede; https://www.youtube.com/watch?v=JmAFKehPY-M

20) „gehorchend befehlen“ – Die politischen Lektionen des mexikanischen Neozapatismus, Carlos Antonio Aguirre Rojas, edition assemblage, 2009/2013, S. 150

21) ebda 16), S. 31

22) https://de.ourlandournature.org/