Muster im Land
„Altes Wissen“ umfasst alle Themen, die ein Leben im Gleichgewicht mit allen Wesen heute und für die kommenden Generationen ermöglicht. Es bezeichnet insbesondere das indigene Wissen der so genannten ersten Völkern.
Dieses alte Wissen ist eingebettet in die jeweilige Kultur, die sich direkt aus der Beziehung zu dem Land ergibt, nicht dem nationalen, sondern dem konkreten Teil der Erde, auf dem die Menschen leben. Es umfasst die Form der Wissensvermittlung, medizinische Kenntnisse, handwerkliche Fähigkeiten, das Wissen über den Rhythmus der Natur, den Kosmos, über eine nachhaltige Bewirtschaftung des Bodens, das Aufbauen und Stärken von Gemeinschaften und sozialen Strukturen, die spirituelle Entwicklung. Alle Aspekte spiegeln sich in der Musik, den Liedern, den Tänzen, den Mustern auf der Kleidung oder der Bemalung der Haut, den spirituellen Feiern. In ihnen hat alles seinen Ausdruck, Inhalt und Sinn und verkörpert und trägt Wissen weiter.
„Im Norden muss etwas Schreckliches geschehen sein…“
In den vergangenen Jahrzehnten, mittlerweile kann man sagen Jahrhunderten, gab es unablässig eindringliche Appelle, in denen Vertreter dieser Menschen uns an dieses alte Wissen erinnern und die Notwendigkeit, mit ihm auch hier in Kontakt zu treten, um die anhaltende Zerstörung der Erde und der Gesellschaften aufzuhalten und umzukehren.
Heute reisen sie aus allen Kontinenten zu den Klima- und Biodiversitätskonferenzen (auf denen ihnen immer noch kein Stimmrecht zugesprochen wird), sprechen vor der UNO, protestieren in den Hauptstädten Europas, sprechen auf Aktionärsversammlungen, organisieren gemeinsam mit anderen Gelegenheiten, um wieder und wieder auf die drastischen Auswirkungen unserer Lebensweise hinzuweisen, – einem Gesellschaftssystem, das auf dem einseitigen und unablässigen Ausbeuten von Menschen und der Erde beruht.
Der australische Autor Tyson Yunkaporta, Dozent für Indigenes Wissen und Angehöriger des Apalech Clans, philosophiert mit einem Freund über die Entstehung der Welt und wann das Elend seinen Anfang nahm und bemerkt angesichts der Tatsache, dass zu dem jahrtausendealten Aboriginal-Wissen schon lange gehört, das Asteroiden Krater bilden und die alten Bezeichnungen für die Sternbilder überall gleichbedeutende Namen haben: “Dies sind weltweite Geschichten und Wissenssysteme, die einmal allen Menschen gemeinsam gewesen sein müssen. Im Norden muss etwas Schreckliches geschehen sein, so unser Gedanke, dass die Menschen all das vergessen haben und die Wissenschaft, anstatt auf schon bestehendes Wissen aufzubauen, wieder bei null anfangen musste.“
Das Ego muss irgendwann außer Kontrolle geraten sein, so ihre Antwort, als „immer mehr Menschen sich für besser hielten als das Land, besser als die anderen, besser als die Frauen, die unser Leben in ihren Händen und Bäuchen halten.“1
Altes Wissen – Kontinuität und Leben
Mit „alt“ ist nicht vergangenes Wissen aus alten Zeiten gemeint, zum Beispiel Fertigkeiten, die frühere, nicht mehr existierende Völker hatten, also eine Beschreibung oder Klassifizierung im völkerkundlichen oder historischen Sinn. Altes Wissen beschreibt ein tiefes und komplexes Wissen, dass sich über Jahrtausende entwickelt hat und von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Es ist ein Wissen, das Kontinuität besitzt. Lebendiges Wissen, dessen Entstehen aufs Engste mit dem Ort verbunden ist; das geboren, entwickelt und wieder eingeschrieben ist in das Land, gespiegelt in den kulturellen Linien und Mustern. Es umfasst sowohl Aspekte für ein Leben entsprechend der jeweils aktuellen Verhältnisse und Erfordernisse, das auch kommenden Generationen ein Leben ermöglicht, als auch seine Einbettung in darüber hinausweisende kosmische Prinzipien.
Auch in unserer Region gab es diese Form des alten Wissens. In den letzten Jahrzehnten und ganz aktuell in diesem Jahr entdeckten Archäologen beispielsweise verschiedene, detailliert gearbeitete Figuren von vor bis zu 40.000 Jahren. Sie belegen, dass auch hier eine uralte, entwickelte Kultur existiert hat mit einer spirituell-schamanischen Ausrichtung, im Sinne einer natürlichen Verbindung zu den Wesenheiten der Natur und der Verehrung des Weiblichen.2
In der Gegend Westeuropas haben wir diese Kontinuität unterbrochen. Den letzten Rest an Verbindung mit altem, auch spirituellem Wissen haben wir mit der Verfolgung und Ermordung von kräuter- und heilkundigen Menschen, vorwiegend Frauen, vom 15. bis ins 18. Jahrhundert hinein, gekappt.
Es ist möglich und wichtig, wieder mit dem Land, auf dem wir leben, und damit mit einem alten Wissen, das auch in uns verborgen ist, in Kontakt zu treten.3
Das alte Wissen als Wegweiser für ein Wiederherstellen des Gleichgewichts
Indigen heißt „in das Land hinein geboren“. Letztlich sind wir das alle – hineingeboren auf die Erde – und wenn wir es unter diesem Blickwinkel betrachten, können wir vielleicht ermessen, wie immens unsere Entwurzelung ist durch die extreme Ausrichtung auf die äußere Welt durch Konsumgüter und auf das Äußere bezogene, mentale Konstruktionen und Ideologien.
Weltweit gibt es etwa 6.500 indigene Völker, die dieses Wissen vielfach noch verkörpern. Zeitgenössische Gesellschaften, die wie wir hier leben und seit Jahrhunderten durch die Folgen unseres Handelns um ihr Überleben kämpfen.
In der letzten Zeit gibt es vermehrt Vorschläge, Berichte und Veröffentlichungen, dass indigenes Wissen hilfreich sein kann, die aktuellen, existentiellen Krisen zu bewältigen. So werden sie als „Hüter der Biodiversität“ bezeichnet und gibt es die Überlegung, für eine nachhaltigere Landwirtschaft Aspekte zu übernehmen. Das wird jedoch nicht reichen, wenn wir nicht bereit sind, unser System grundlegend zu hinterfragen.
Tyson Yunkaporta, als ein Vertreter des indigenen Wissens, hat die Essenz einer möglichen Zusammenarbeit so beschrieben: „Ich habe […] von den zivilisierten Kulturen gesprochen, die ihr Kollektivgedächtnis verloren haben und sich über Tausende Jahre mühen müssen, wieder zur Reife und zu einem umfassenden Wissen zu gelangen, wenn sie keine Unterstützung erhalten. Aber diese Unterstützung erfolgt nicht so, dass kulturelle Inhalte und ökologisches Wissen weitergegeben werden. Die Unterstützung, von der ich spreche, findet in der Form statt, dass Wissensmuster und Denkweisen geteilt werden, die das in uns verborgene Wissen der Ahnen zu reaktivieren helfen. Die Unterstützung, die die Menschen benötigen, ist nicht derart, dass die Menschen sich Aborigine-[indigenes] Wissen aneignen, sondern dass sie ihr eigenes Wissen erinnern.“4
So steht’s geschrieben ; ) Meiner Meinung nach eine echte Alternative. Und eine kluge Möglichkeit, die Dinge in vielerlei Hinsicht wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Auch wenn diese Herangehensweise ungewohnt für uns wäre, denn wir wären die Lernenden.
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1Tyson Yunkaporta, „Sand Talk – Das Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt“, 2022
2 www.dw.com: „Steinzeitkunst offenbart große Fertigkeit unserer Vorfahren“, 6.8.2024
3 Das hat nichts mit einer Nation zu tun und demnach auch nichts mit nationalistisch-völkischen oder hierarchisch-rassistischen Ideologien. Ebenso wenig ist es eine neu entworfene Esoterikströmung.
4 Tyson Yunkaporta, „Sand Talk – Das Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt“, 2022